Gerade im Zuge der jetzigen Diskussion über Jugendgewalt, ihre Ursachen und mögliche Lösungen, finde ich es interessant, etwas über das Thema Jugendkriminalität/-Gewalt in der Türkei zu hören; dem Land, aus dem der Großteil unserer jugendlichen Gewalttäter mit Migrationshintergrund kommt.
http://www.welt.de/politik/article1564507/Auch_die_Tuerkei_leidet_unter_Jugendgewalt.html
Die Essenz des Artikels kam für mich nicht gerade überraschend: Auch die Türkei hat ein Problem mit Jugendgewalt. Die Zahl der Taten, die durch Straftäter unter 18 Jahren begangen wurden, betrug sich 2006 auf 33.000, im Vergleich zur deutschen Kriminalstatistik des BKA mit 278.000 (!) Straftaten allein von den 14-18 Jährigen, eine verdammt niedrige Zahl. Jedoch kann man nicht ausschließen, dass diese Zahlen beschönigt wurden, um international gut dazustehen, außerdem spielt noch die Wachstumsrate der Jugendkriminalität eine Rolle bei der Betrachtung. „Es geht hier um eine Zunahme der Jugendkriminalität von rund 60 Prozent – pro Jahr. Das ist gut dreimal mehr als sonst wo auf der Welt“ sagt der türkische Pädagoge Adem Solak. 60 Prozent sind wirklich erstaunlich; in Deutschland hatten wir von 2005 auf 2006 einen Rückgang von -2,3 Prozent, und von 2004 auf 2005 einen Rückgang von -4,3 Prozent. Ich frage mich wirklich, wie man eine Zuwachsrate von 60% erklären will. Eine Explosion der Bevölkerungszahl hat es wohl kaum gegeben, die einzige Erklärung, die mir einfällt ist, dass die Taten erst in letzter Zeit genau dokumentiert und untersucht werden. Aber das ist, wie gesagt, bloß Spekulation.
In diesem Welt-Artikel kommen zwei Erklärungsansätze zur Geltung: Einerseits eine Binnenmigration in der Türkei (Türken aus dem rückständigeren, ärmeren Süden der Türkei ziehen in die besser entwickelteren Großstädte, was zu sozialen Spannungen führt), eine These, die ich für fragwürdig halte, da es hier zwar soziale Unterschiede gibt, die zu Reibereien führen könnten, die Ethnie, Sprache und Kultur jedoch gleich sind. Es wäre sicher die bequemere Erklärung, Adem Solak bringt jedoch noch eine andere, tiefgreifendere: Die türkische Erziehungskultur
Einerseits gab und gibt es sehr feste Familienstrukturen, die eigentlich der Kriminalität entgegenwirken. Andererseits wird in türkischen Familien oft Gewalt als Erziehungsmittel angewendet. Diese Gewalt geben die Kinder weiter – sobald die festen Familienstrukturen sich aufzulösen beginnen. Und diese tendenzielle Auflockerung der Familienstrukturen ist ein Merkmal des gesellschaftlichen Wandels in der Türkei; Gewalt wird in den Familien aber weiterhin traditionell angewendet.
Ich denke, hier liegt der Hund begraben, denn diese Familien- und Erziehungskultur wird von türkischen Migranten auch nach Deutschland exportiert, wo sie sich wunderbar entfalten kann, vielleicht sogar noch besser als in der Türkei, wenn es so ist, dass die Förderung ureigenster Traditionen umso stärker ist, je ferner die angestammte Heimat liegt. Solak trifft es meiner Meinung nach auf den Punkt: Gewalt in der Familie erzeugt wiederum gewalttätige Gedanken und Handlungen in den Köpfen der Kinder. Man spricht hierbei auch gerne vom Familienpatriarchat: keine Herrschaft der Männer, sondern vielmehr eine Herrschaft der Väter, die Macht und Gewalt über ihre Söhne und Töchter ausüben können.
Das Dilemma ist, dass die deutsche Regierung keinerlei geeignete Instanzen hat, dieser Erziehung, die augenscheinlich im krassen Widerspruch zu unserem Grundgesetz und den moralischen Normen seit Mitte des letzten Jahrhunderts steht, wirksam entgegenzutreten. Besonders im Jahr 2007 hat man so viele Berichte über Kindesmisshandlung und Verwahrlosung in deutschen Städten gelesen, wie kaum zuvor. Und noch nie wurde so deutlich, wie eingeschränkt die Kontrollmechanismen von Jugendamt und Sozialarbeitern wirklich sind. Der Einfluss des Staates auf die Erziehung wird faktisch nie so stark sein, dass allgemein anerkannte Normen durchgesetzt werden können. So entstehen Parallelgesellschaften. Und diese führen zu sozialen Spannungen, Missachtung der Gesetze und der Obrigkeit, und schließlich zur Kriminalität und Gewalttätigkeit.
Damit schließt sich der Kreis, auch im Hinblick auf die Türkei. Ich denke, beide Länder haben die selben Probleme, auch wenn die Auseinandersetzung mit dem Thema in der Türkei gerade erst begonnen hat, während bei uns bereits seit Jahren immer mal wieder eine Diskussion über Jugendgewalt gestartet wird, die dann von den verschiedensten politischen Gruppierungen torpediert wird (Linke, SPD, Grüne, Ausländerverbände), mit der Beschuldigung des Rassismus´ und der Ausländerfeindlichkeit. Vielleicht gelingt es ja der Türkei, diese Probleme direkter und pragmatischer zu behandeln als in Deutschland, ich bin auf jeden Fall gespannt, wie die Entwicklung in beiden Ländern zukünftig verläuft und was für Schritte letztlich unternommen werden.
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